Bolivien


Bolivien > die Tiefland-Region Chiquitania


Im südlichen Tiefland von Bolivien liegt die Region Chiquitania. Sie ist fast so groß wie Deutschland, aber es gibt nur wenige Dörfer, verbunden nur durch eine rote Erdpiste. Die meisten Dörfer wurden Mitte des 18. Jahrhunderts von jesuitischen Missionaren gegründet. Auch wir haben auf unserer Reise so manches Missionserlebnis.

Bevor es weitergeht, müssen die geklauten Planken ersetzt werden

Uwe, 25. November 2003: Es geht los auf der Brücke über den Rio Grande, auf dem Weg von von Santa Cruz nach Concepcion. Der Verkehr liegt lahm. Was ist los? Wir spazieren über die windige Brücke. Der Sand im fast ausgetrockneten Flussbett saust in dicken Wolken an uns vorbei. Wir treffen drei Frauen aus der Schweiz in altmodischen langen Kleidern. Nachts würden immer die Holzplanken geklaut und tagsüber müssten sie dann ersetzt werden, erklären sie. Das käme öfter vor, sie seien hier häufig unterwegs. Aber was machen sie hier?

Sie sind in Mission der Zeugen Jehovas unterwegs und wollen die deutschsprachigen Mennoniten (eine Wiedertäufergruppe) davon überzeugen, dass man „auch Gott dienen kann ohne diese extreme Enthaltsamkeit“. Aha. Da stehen wir auf einer kaputten Brücke mitten in Bolivien und bekommen zwei Hefte in die Hand gedrückt: „Erwachet“ und „der Wachturm“.

Deutscheinsiedel ausgesiedelt

In Concepcion gehts deutschsprachig weiter. Im Ferienhaus der Familie Hiemann ist noch ein Zimmer für uns frei. Die Hiemanns kommen aus dem Örtchen Deutscheinsiedel im Erzgebirge. Vor vier Jahren beschlossen sie auszuwandern. Dabei war Jörg sogar ehrenamtlicher Bürgermeister von Deutscheinsiedel. Aber sie wollten raus aus dem hektischen und konsumorientierten Leben in Deutschland. Die vier Kinder waren damals zwischen 7 und 13 Jahren alt. Hier in Boliven fühlen sich alle wohl. Allein sind sie nicht. Da sind fünf Hunde, ein paar Katzen, Schweine, Schafe, Pferde und ein Papagei.

Ramona ist im Dorf als Empanada-Gringa bekannt. Täglich dreht sie mit dem Rad ihre Dorfrunde, um leckerste Empanadas (selbstgemachte Teigtaschen mit Käse) und Chicha (ein Maisgetränk) zu verkaufen. Die Kinder sind ohne Spanischkenntnisse in die Schule gegangen und sprechen heute alle beneidenswert fließend spanisch. Wir fühlen uns pudelwohl und bleiben gleich drei Tage.

Claudia: Stefan kommt aus dem Haus, ärmelloses T-Shirt, Gel in den Haaren. „Wo willst du hin, nimm mich mit!“ ruft Marianne bei seinem Anblick aus. Wir gehen alle mit, das Nachtleben von Conce zu testen.

Uwe spielt mit Stefan Billard, wir anderen spielen „Zappo“ (Frosch), ein familienfreundliches Spiel bei dem man kleine Eisenklötzchen auf einen Eisenfrosch werfen muss. „Ein Ossi, ist der süss“ brüllen alle, den Kinofilm „Sonnenallee“ zitierend, als Jörg wirft. Danach gehts in die Karaoke-Bar. Auch ein paar englische Songs gibts, so singt die komplette Familie Hiemann „Stand by me“ und Uwe „Tears in heaven“.

Architekten und Missionare

Die Jesuitenkirche von Concépcion

Bei den Hiemanns lernen wir auch Eckhardt kennen, einen schweizer Architekten, der viel über die Geschichte der Region weiß. In den sogenannten Chiquitos-Reduktionen lebten im 18. Jahrhundert jeweils 2000 bis 3000 Indigenas verschiedener ethnischer Gruppen mit zwei bis drei Missionaren, die sich als gottgesandte Dorfchefs aufspielten. Die Indigenas wurden „christianisiert“, waren im Gegenzug aber sicher vor Verschleppung in die Silberminen von Potosí und vor Sklaverei auf den Haziendas.

Sie lernten ungewöhnliche Musikinstrumente wie Violine, Piano und Harfe und Kunsthandwerk für den Bau der Kirchen. Der Jesuitenpater Martin Schmid missionierte seit Ende des 17. Jahrhunderts im Dschungel Boliviens und leitete den Bau der schönen Holzkirchen an. Mehr als 200 Jahre später, zwischen 1987 und 1999, reiste wieder ein Schweizer nach Bolivien. Hans Roth restaurierte die Kirchen in den ehemaligen Missionsdörfern. Eckhard war Schüler von Hans Roth und arbeitet zur Zeit an seiner Doktorarbeit.

Eckhard äussert sich zu allem sehr skeptisch. Die Indigenas wurden von den Missionaren unterdrückt und die Unterdrückung hält bis heute an. Sie haben keine gleichberechtigte Stellung und kein Mitspracherecht, auch wenn sie ihre Interessen vor den Wahlen einzubringen und oft auch durchzusetzen wissen. Rassismus gibt es immer noch auf allen Seiten. In Concepcion sind heute statt der Jesuiten die Franziskaner „eingezogen“.

28. November 2003. Es heißt Abschied nehmen von den Hiemanns. Auf roter Sandpiste holpern wir auf und ab, zum Teil ganz schön steil. Von wegen Tiefland, flach!? Ausserdem ist es unglaublich heiß. Ich fühle mich wie zu Beginn unserer Reise in Kerala, als würde mir ständig jemand mit einem heißen Haarfön ins Gesicht blasen. Die Luft ist so warm, dass meine Lunge sich beschwert. Ein paar Schilder weisen auf Haziendas hin. Statt Urwald stehen meist auf freier Weidefläche ein paar Palmen und viele weiße Rinder laufen rum. Die Haziendas sind Ueberbleibsel der spanischen Herrschaft. Es heißt, im unpolitischen Tiefland habe es noch bis in die 70er Jahre Sklaven gegeben.

San Fernando, nach über 60 Kilometern endlich ein Dorf. Ein Schild „Bar“ verspricht Getränke. Als wir nach Soda fragen, heißt es nur „gestern“. Tja, da sind wir wohl einen Tag zu spät. Aber das Dorf macht einen netten Eindruck. Gibt es denn Wasser? „Ja, gibt es.“ Mitten im Dorf steht eine Wasserpumpe. Und einen Platz für unser Zelt? „Immer“. Gern könnten wir auch zwei Tage bleiben. Enorm freundlich. Sind wir noch in Bolivien?

Das Dorf besteht aus 12 Familien. Schnell versammeln sich die Kinder um uns, darunter auch der kleine Reiter mit dem Cowboyhut, den wir schon auf der Piste rasant galoppieren sahen. Die Mädchen spielen „Himmel und Hölle“, dieses Hüpf- Kästchenspiel, das wohl auf der ganzen Welt von Kindern gespielt wird. Sie freuen sich über unsere Aufmerksamkeit. Endlich wieder lachende Kinder.

Tausende von Schmetterlingen umschwirren uns. Auf allen Taschen, dem Zelt, die Wäscheleine sitzen sie. Da wir hier in der Region immer wieder von Schmetterlingen hören, die ihre Eier unter die Haut legen, wodurch eine dicke, eitrige Wunde entsteht, die nicht eher abheilt, bis eine flipsgroße Made entschlüpft, beäuge ich die hübschen Tierchen doch auch sehr skeptisch. Ich habe keine Ahnung, wie der Eier-in-Wunde-legende Schmetterling aussieht. Das macht alle verdächtig.

Spinnen, Schlangen, Pumas

Ueber San Ignacio gehts weiter nach Santa Ana und San Rafäl. Die Straße wird schmaler, der Wald dicht. Hohe Bäume sind von Schlingpflanzen umwuchert. Spinnentag. Immer wieder müssen wir uns ducken, um nicht in einen der beeindruckenden Konstrukte von Spinnennetzen zu radeln. Von einer Seite der Piste zur anderen bauen Hunderte von Spinnen eine Art Gemeinschaftswohnhaus. Jede Spinne sitzt in ihrem Netz, aber das ist mit vielen vielen anderen verbunden, so dass sie hoch über der Straße schweben. Ein Himmel mit schwarzen Spinnensternen.

„Kilometros 90“ heißt eigentlich Miraflores, aber das Dorf ist besser bekannt als Kilometerstein. Das Schild „Bar“ lässt erneut auf Getränke hoffen. Im großen Kühlschrank steht einsam eine einzige 2-Liter-Papaya-Limo. Die ist knallgelb und schmeckt nach Gummibärchen. Mir ist es ein Rätsel, wie man aus einer so leckeren Frucht so fiese Limo machen kann. Sie ist die greulichste unter den Geschmacksrichtungen, dicht gefolgt von Manzana (Apfel), knallgrün.

55 und 60-jähriges Jubiläum:
Wie alt sind die Flaschen?

In Bolivien bestellt man in der Regel „Soda“ oder „Gazeosa“ und erhält irgendeine Farbe. Nur mit viel Hartnäckigkeit schaffen wir es manchmal, Limon zu bekommen, auch wenn es nicht die zuerst greifbare Flasche ist.

Man bestellt auch kein Gericht, sondern „Almuerzo“ (Mittagessen) oder „Cena“ (Abendessen). Es gibt was zu essen und gegessen wird was kommt. Meistens sowieso immer das gleiche: Suppe mit undefinierbarem Stück Fleisch in der Mitte gefolgt von Reis mit Hühnchen.

So trinken wir Papaya, besser als nix und immerhin kalt. Das Haus, die Bar, ist typisch für die Region. Es hat ein Palmenblattdach mit langem, schattigen Vordach. Hier sitzen wir, neben uns ein großes Gewehr. Das sei für die „Tigres“, wobei mit „Tigres“ jede Art von Großkatze und in diesem Fall wohl Pumas gemeint sind. Noch zwei andere Gäste sind in der Bar und erzählen munter, wie „tranquillo“ – ruhig – es hier in der Gegend sei, im Gegensatz zu anderen Regionen Boliviens und erst recht zu Brasilien. Wieder der typische „Lokalrassismus“, der uns so oft begegnet. Wir deuten auf das Gewehr. Tranquillo? Nein, nein, nur die Tiere seien hier gefährlich, die Pumas und die Schlangen.

Spidercrossing. Erst sehen wir nur eine. So groß wie eine ausgebreitete Hand, mindestens. Als sie merkt, dass sie beobachtet wird, lässt sie sich auf den Bauch fallen und bleibt einfach, wo sie ist. Womöglich sprungbereit oder spuckbereit?

Ich bremse auch für Gürteltiere

…selbst wenn sie schon überfahren sind. Da liegt eines dieser eigenartigen Panzertiere. Das muss ich mir näher ansehen. Vollbremsung. Da hauts mich rein. Zu blöd! Jede Menge Schürfwunden. Es fällt sich nicht gut auf so einer Schotterpiste. Aber zum Glück sind alle Knochen heil und das Radfahren klappt noch.
Später sehen wir endlich ein lebendiges Gürteltier. Mit dem igelartigen Tippel-Gang und der spitzen Nase wirkt es trotz Panzer niedlich. Und es ist nicht sonderlich scheu. Erst als wir ihm mit unseren Kameras auf den Leib rücken wollen, verkriecht es sich in einem Erdloch.

Zeitreise zu den Mennoniten

Die Mennoniten haben den ursprünglichen Wald völlig platt gemacht.

„Kilometros 45“. Eine Straße zweigt ab in die Mennonitenkolonie. Hier wollen wir einen Platz für unser Zelt suchen. Und da stehen auch schon die ersten Latzhosen. Die Wiedertäufergruppe der Mennoniten ist Anfang des 16 Jahrhunderts in Deutschland entstanden und über Südrussland und Nordamerika nach Mittel- und Südamerika gezogen.

Take me home, country road…wir radeln in eine andere Welt, aber irgendwie auch in eine bekannte. Große Äcker, Höfe, Traktoren, Kühe. Sind wir im Münsterland? Vielleicht vor 200 Jahren? Bei den Mennoniten ist das Fortbewegungsmittel der Wahl die Kutsche mit einem Pferd davor.

Alle Männer tragen Latzhosen, die Frauen lange Kleider mit Puffärmeln und in gedeckten Farben, schwarz, dunkelblau, manchmal gar ein fröhliches mittelblau. Auf dem Kopf der Männer tront eine Art Cowboyhut, die Frauen tragen Kopftuch oft plus Strohhut. Die Kinder sind geschlechtlich entsprechende Miniaturausgaben. Und sie sehen deutsch aus. Altmodisch, aber deutsch. Hier, mitten in Bolivien. Und alle starren uns an.

Es gibt kein Dorfzentrum. Ein großer Bauernhof folgt auf den nächsten, in regelmäßigen Abständen. Die Menschen wirken unzugänglich und verschlossen. Wir gehen zu einem Hof. Die Hunde bellen. Da war doch gerade noch jemand. Wo ist der hin? Wir rufen. Schließlich lauert ein junger Mann, vielleicht 18 Jahre alt, hinter einer Stallmauer hervor. Ich frage, ob er deutsch oder spanisch spricht. Er bleibt 20 Meter entfernt stehen und zuckt bloß mit den Schultern.

Auf dem nächsten Hof ist es besser. Wir erklären einer jungen Frau unser Anliegen. „Hasta mañana?“ Bis morgen – das scheint wichtig zu sein. „Claro, nada mas“, länger nicht. Sie stellt uns zwei Stühle hin und verschwindet. Husch. Die Zeit vergeht. Wir warten wie bestellt und nicht abgeholt. Was für eine merkwürdige Stimmung. Neun Menschen leben auf diesem Hof. Vor allem die Frauen huschen an uns vorbei oder davon.

Nach einiger Zeit können wir endlich unser Zelt neben dem Haus aufschlagen. „Wollt ihr abschwemmen?“ werden wir gefragt. Das Angebot nehmen wir doch gern an. Schließlich ist es heiß und wir waren 90 Kilometer auf staubiger Straße unterwegs. Neber der Küche gibt es eine richtige Dusche. Was für eine Wonne.

Auch zum Abendessen werden wir eingeladen. Die Mennoniten sprechen untereinander ein Plattduetsch, dass wir nicht verstehen. In der Schule lernen die Kinder Altdeutsch. Vater Friedrich spricht Altdeutsch, ein bisschen Englisch und Spanisch. Mit ihm fällt die Verständigung am leichtesten.

Friedrich erzählt, dass diese Mennonitenkolonie in Bolivien bei „Kilometer 45“ seit 25 Jahren besteht. Die meisten kamen aus Mexiko über Belize hierher. Die Mennoniten leben ein religiöses Leben nach strengen Regeln. Mal aus Platzgründen, mal, weil ihre Regeln nicht zu den Vorstellungen der Behörden der Länder passten, zogen und ziehen sie weiter in ein anderes Land, um dort wieder Kolonien aufzubauen.

Aus Urwald wird Acker

„Als wir hier ankamen, war alles Wald“ erklärt Friedrich. Jetzt ist es Münsterland. Wir fragen uns, ob sie sich der ökologischen Auswirkungen bewusst sind? Wohl kaum. Sie sind stolz auf ihre Arbeitsleistung. „Wir haben wieder neues Land gekauft, für sieben neue Familien“. Ist das auch alles Wald? „Ja, das wird noch viel Arbeit.“

Mir kommt es so surreal vor, dass diese deutsch aussehenden Menschen hier über den bolivianischen Urwald das Münsterland auswalzen. In 25 Jahren haben sie bereits 24.000 Hektar „verwandelt“. Dabei kamen nur 1.500 Mennoniten aus Belize hierher. Heute sind es 3.700. So ein Umzug wird von den Adeligen vorbereitet. Der Adel schaut sich um, kauft Land, und nach und nach kommen die Familien hinterher. Feudalherrschaft? Insgesamt gibt es in Bolivien ca. 43.000 Mennoniten. Das macht schon einen Anteil an der Bevölkerung des dünnbesiedelten Landes aus und sie tauchen sogar schon in die Karte der ethnischen Gruppen von Bolivien auf.

Wie kommt es, dass sie sich nicht unter die lokale Bevölkerung mischen? Wer bestimmt diese merkwürdigen Regeln? Es gibt zwar keine Elektrizität, aber sobald es dunkel wird, laufen alle mit Taschenlampen herum. Batterien sind also erlaubt. Drei der Söhne stehen im Dunkeln um unsere Räder und leuchten mit ihren Taschenfunzeln alles ab. Warum gibt es bei euch keine Fahrräder? „Die Religion erlaubt es nicht“

Sie erlauben es nicht

Wir sitzen wieder auf unseren Stühlen. Alle sind gerade wieder weggehuscht. Es scheint, dass niemand so recht weiß, wie man mit uns umgehen soll. Gäste gibt es hier bestimmt nicht oft. Doch es gab schon welche. Der kleinste Sohn, vielleicht 10 Jahre alt, bringt uns ein Fotoalbum. Zu sehen ist die Mennoniten-Familie und zwei Frauen aus Bayern. Ob wir Fotos aus Deutschland haben. Sie sind besonders daran interessiert, wie es heute in Deutschland aussieht. Gibt es hier eine Kamera? Ich frage Johanna. Die Antwort ist erneut der dubiose Satz, den wir öfter hören. „Sie erlauben es nicht“. Sie? Wer ist denn ’sie‘? „Die Gemeinde.“. Aber sie erlauben, dass Gäste Fotos machen und schicken. Johanna tut mir lied. Sie lächelt so nett und wirkt noch relativ locker, jedenfalls freundlich. Sie ist 19 Jahre alt. Mit 20 wird meistens geheiratet. Ob sie wohl raus will aus der Kolonie?

Zeit fürs Abendbrot


Zwei Suppen stehen bereit, Tassen, Milch, Kartoffeln mit Ei und Nudeln, Weißbrot. Wir essen allein. Die Familie hat schon gegessen, Johanna spült ab. Es schmeckt so richtig deutsch. Nach dem Essen zeige ich Fotos von Zuhause und Bilder unserer Reise. Die Stimmung wird etwas lockerer. Alle umringen mich, um die kleine Fotoalben zu betrachten. Sie wundern sich über die Hochhäuser in Stuttgart und dass mehrere Familien in einem Haus leben. Und sie freuen sich über die konischen Hüte der Vietnamesinnen. Dann huschen alle wieder weg.

Am nächsten Morgen wird es ein bisschen entspannter. Wir bekommen Brot, Kaffee und Marmelade. Friedrich zeigt uns Bücher und Hefte. Eins dokumentiert die Mennonitenkolonie in Bolivien. „Nachmachen verboten“ steht drauf. Ein anderes Heft erzählt die Geschichte eines jungen Mennoniten, der als Kind von den Mexikanern geklaut wurde. Erst als Erwachsener kam er zu den Mennoniten zurück. Er habe bis dahin immer Schwierigkeiten gehabt, denn bei den Mennoniten sei sein Platz. Literatur, um die Leute im Dorf zu halten?

Wir sind unsichtbar

Weiter geht es durch die Kolonie. Im Kaufladen schauen sich zwei Frauen Stoffballen an, ein paar Männer stehen im Laden und hinter der Theke. Nur einige Artikel, wie 2-Liter-Pepsiflaschen oder Limonadenpulver, verraten, dass wir noch in der heutigen Zeit sind. Wir kaufen ein, als wären wir „normale“ Kunden und nicht extrem bunt bekleidete Radfahrer. Keinerlei offene Beachtung für uns. Auf dem Hof fahren Kutschen vor und weg. Auf der „Kutschenallee“ ist einiges los. Immer das gleiche Bild. Sobald eine Kutsche vorbeigefahren ist, fliegen die Köpfe. Die Kinder drehen sich um, die Erwachsenen schauen meist stur und steif nach vorn. Glücklich wirken sie nicht, die Mennoniten. Die wenigsten lächeln. Damit passen sie ins Land Bolivien.

Uwe: Als wir wieder auf der Hauptstraße sind, fühlen wir uns erleichtert. Als wären wir gerade heil einer Zeitmaschine entstiegen. Jetzt sind wir wieder in der bolivianischen Realität. Hitze, Staubpiste und massenweise Fliegen und Mücken um uns herum, sobald wir anhalten. Als wir gegen Mittag in San José de Chiquitos ankommen, döst der Ort vor sich hin. Wir treffen Lote und Yosi, eine Dänin und ein Isräli. Sie arbeiten für sechs Monate im Kinderdorf. Wir beschließen, sie dort einmal zu besuchen.

Im Waisenhaus von San José de Chiquitos

Lote wirkt etwas lustlos und genervt. Die beiden fühlen sich als Außenseiter. Weil Lote protestantisch ist und Yosi Jude passen sie wohl nicht ins katholische Konzept des Hauses. Das macht ihnen die Sache nicht leicht. Andererseits haben sie viel Spaß mit den Kindern, die sehr anhänglich sind und viel Aufmerksamkeit brauchen. Das bekommen auch wir in der kurzen Zeit zu spüren, in der wir uns hier aufhalten. „Mas fuerte“ – stärker – werde ich angefeuert, als ich vesuche, den Basketball in den Korb zu werfen. Dass es richtig scheppert ist mindestens so wichtig wie das Treffen. Als wir nach zwei Stunden wieder gehen, sind uns die Kinder schon ein bisschen ans Herz gewachsen. Wie muss das erst nach sechs Monaten sein!

San José de Chiquitos ist zwar keine aufregende Metropole, aber die Leute sind sehr nett. Und auch auf der Plaza sehen wir strahlende Kindergesichter. Hier haben sie sich also versteckt, die lebensfrohen Tiefland-Bolivianer. In San José gibt es noch eine Kuriosität, ein Ueberbleibsel aus der Missionszeit der Jesuiten. Wir gehen auf den Hof der alten Jesuitenkirche. Unter den Arkaden und in dem Seitengebäude in allen Räumen wird fleißig gespielt und geübt, drinnen und draußen, ausnahmslos Streichinstrumente wie Geige und Chello. Aus einem Raum klingt wunderbar Mozarts kleine Nachtmusik. Bis heute leben die Instrumente und die Musik, die die Jesuiten mitbrachten, hier fort.

Es regnet und regnet. Damit ist klar, dass die Piste zur Grenze nicht mehr befahrbar ist. Also fahren wir eine Nacht mit dem Zug. Claudia beobachtet, wie ein kleiner Plastikbeutel mit weißem Inhalt hin- und hergereicht wird. Es sieht so aus, als würden Drogendealer ihre Ware mit Hilfe eines harmlos aussehenden jungen Paars über die Grenze nach Brasilien schmuggeln. Es ist enorm, wie sehr die Drogendealer nach Drogendealer aussehen, sich verdächtig benehmen und Nervösität ausstrahlen.

Wir steigen am Morgen in Puerto Suarez aus, schauen uns ein bisschen um und radeln die letzten Kilometer in Bolivien nach Quillaquolla zur Grenze. Für fiese, aber kalte Getränke in einem noch fieseren Lokal geben wir unsere letzten Bolivianos aus.

Geduldsspiel an der Grenze

Die Grenzer haben viel Zeit und Durst

Das war keine gute Idee, denn wir müssen ja noch rüber nach Brasilien. Und es ist Sonntag. So stehen wir an der Grenze und sind offensichtlich eine halbe Stunde zu spät. Es ist halb eins, der Grenzbeamte, der uns Stempel geben kann, macht um zwölf Uhr Feierabend. Und was machen die beiden Typen hier, warum können die uns keinen Stempel geben. Wir haben überhaupt keine Lust, in diesem Grenzort zu bleiben und das Geld ist auch schon getauscht.

Warten auf die Stempel

Nach einigem Hin und Her, Gewarte und Ausdauer Gezeige unsererseits, ist er schließlich doch da, der Beamte. Aber er will Geld, 20 Bolivianos (ca. 3 Dollar). „Wir haben nix mehr“ sagen wir. „Dann müsst ihr morgen wieder kommen“. Aber als wir Anstalten machen, wegzugehen und tatsächlich nicht zu bezahlen, schnappt er plötzlich doch unsere Pässe und verschwindet kurz damit. Wir hören zwei kräftige Kracher auf einem Tisch und freuen uns. Na also, mal wieder hat sich Hartnäckigkeit und Geduld ausgezeichnet.

Ohne weitere Grenzkontrollen fahren wir fünf Kilometer bis nach Corumbá, den ersten Ort in Brasilien. Von unserem Hotelzimmer aus sehen wir eine riesige grüne Fläche, das Pantanal.