Uttaranchal


Indien > Uttaranchal – im indischen Himalaya


Uwe: 21. November 2002. Um 8.30 kommt unser Zug in Lalkuan an. Ich versuche sofort, die Berge zu erblicken. Und tatsächlich, ganz blass kann ich in der Ferne Erhöhungen erkennen. Ganz vage nur. Wir radeln nach Haldwani und haben dabei direkten Kurs auf die Berge. Haldwani liegt gerade noch in ebener Landschaft. Danach beginnt das Gebirge unmittelbar mit steilen Hängen. Zunächst herrscht viel Verkehr, nicht zuletzt weil zahllose Schüler zu ihren Schulen transportiert werden wollen. Unser Zielort Nainital ist bekannt für seine excellenten Schulen. Offenbar strahlt dieser Ruf auch in die Umgebung aus. An der Straße reiht sich eine Schule an die andere und überall sind junge Menschen in Schuluniform zu sehen.

Die Straße wird bergiger. Der Verkehr lässt nach. In der Ferne und weit oben sehen wir den Ort Nainital, der auf einer Höhe von 1950 Metern liegt. Mit zunehmender Höhe werden die Aussichten immer spektakulärer. Ach ist das schön, durch die Berge zu fahren.

Nainital © Abhishekkaushal CC BY-3.0

Nainital breitet sich entlang eines länglichen Sees aus. Der Ort ist umgeben von Bergen, so dass wir auch hier noch keine Aussicht auf die hohen Himalaya-Gipfel haben. Aber auch so ist Nainital sehr hübsch gelegen, was auch zahlreiche Touristen und Honeymooner anlockt. Am See werden die passenden Tretboote in angeboten.

Abends wird es knackekalt. Wir freuen uns über unsere dicken Fleeceklamotten. Die Menschen sind alle dick eingemümmelt und tragen Mützen. Nachts wirkt Nainital fast noch hübscher als tagsüber. Die vielen Lichter an den Hängen sehen ein bisschen wie funkelnde Sterne aus. An einem Stand gibt es sogar Nikolauskerzen die wir uns schon mal für Weihnachten sichern.

Als wir an einer der Buden noch einen leckeren heißen Kaffee aus einer Pseudo-Espressomaschine trinken, haben wir ein bisschen das Gefühl, wir stünden auf einem Weihnachtsmarkt. Um uns herum Verkaufsbuden, im Hintergrund bimmeln Glocken eines mit Lichterketten geschmückten Tempels und wir stehen dazwischen mit einer heißen Tasse in der Hand.

So, 24.11.02 Heute geht es weiter nach Almora. Wir glauben, zunächst 1000 Höhenmeter runter zu fahren, packen uns sehr warm ein und machen uns auf den Weg. Doch schon kurz nach der ersten Abfahrt müssen wir schon wieder bergauf. Natürlich kommen wir sofort ins Schwitzen, so das wir ein, zwei Schichten Klamotten wieder ausziehen müssen. Aber sobald es wieder runter geht, wird es saukalt.

Es ist wie dieses „Schokoladen-Ess-Spiel“. Sobald man eine sechs würfelt, muss man Schal, Mütze, Handschuhe usw. anziehen und darf an einer Schokolade rumschneiden. Nur dass es bei uns keine Schokolade, sondern ein kleines Stückchen Abfahrt gibt. Nach ein paar Mal An- und Ausziehen geht es endlich stetig runter. Und wie es runtergeht.

Wir tauchen in ein Tal ein und wundern uns, dass es immer weiter steil bergab geht, obwohl wir mehr oder weniger an einem Fluss entlang fahren. Alles ist hier supersteil. Die Talhänge genauso wie der Flusslauf. Später steigt die Straße dann steil an bis rauf nach Almora.

Der Himalaya brennt
Die Sonne geht unter. Die Wolken ziehen von links nach rechts. Die Kette der hohen Peaks des Himalaya ist nur unvollständig zu sehen. Aber die Farben des Sonnenuntergangs werden vom Schnee der Berge an die Wolken reflektiert. In wechselnden grellen Farben zwischen rosa und lila leuchten die Wolken. Einfach toll.

Unser Ziel ist Kausani, bekannt für ein weites Bergpanorama. Vor uns tut sich ein tiefer weiter Talkessel auf, der von den höchsten Bergen Indiens überragt wird. Wir sind hier viel näher an den Bergen als in Almora. Hier habe ich das Gefühl, dass mich die Berge überragen und ich aufblicken muss.

Mo, 25.11.02 Um 8 Uhr sind wir wieder auf der Straße. Wieder dick eingemümmelt. Wieder dieses An- und Ausziehspiel. Das Morgenlicht taucht die Landschaft in wunderbar weiches Licht. über den bewaldeten Hängen entsteht ein lebendiges Muster aus Licht und Schatten. Weiter unten ist das Relief flacher. Hier wird viel Landwirtschaft betrieben. Durch die einzeln stehenden Laubbäume sieht es plötzlich aus wie eine gute alte schwäbische Streuobstwiese. Was allerdings nicht so recht ins Bild passt ist der Affe, der von einem Hund gejagt über die Straße flüchtet und mich zum Bremsen zwingt.

Wir übernachten im Anashakti Ashram. Mahatma Ghandi hat sich Ende der 20er Jahre in diesem Ashram aufgehalten, zwei Wochen geschwiegen und dann das Anashakti Werk verfasst. Noch heute sind zahlreiche Regeln angeschlagen. Es hält sich allerdings keiner daran. Während des Dinners wird munter geplaudert, auch wenn doch geschwiegen werden sollte.

Nach dem Essen haben wir ganz schön Mühe, noch einen Kaffee zu bekommen. Alles ist dunkel. Wir werden an einer Bude fündig, wo der Wirt eigentlich gerade den Feierabend einläuten will. Aber er macht uns Kaffee und ist dabei ganz redselig. Als wir uns verabschieden schaut er gebannt in die Dunkelheit und faselt was von „Tiger“ und „Big Cat“. Wir sind schon ganz aufgeregt, schliesslich gibt es in Uttaranchal Leoparden. Da entdecken wir die süsse Hauskatze, die hinter einer Hütte sitzt. Wir müssen also nicht kämpfen.

Claudia: „Scheint ja nicht so leicht zu sein“ lästert Uwe, nachdem Deepaks fünfter Versuch, die Gaslampe für uns anzuzünden, scheitert. „Doch doch, es ist ganz leicht“ antwortet Deepak in seinem langsamen und deutlichen Englisch und klingt damit unglaublich seriös, was gar nicht zu ihm passt. Nach vier weiteren Streichhölzern brennt die Lampe. Nur keine Hektik. Deepak kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Kausani. Bereits seit 16 Jahren hat er die kleine „Restaurant-Bude“ unterhalb des Ashrams, leider ohne Himalaya-Panoramablick. Zur Zeit gibt es morgens und abends ein bisschen Kundschaft, tagsüber hat er mal geöffnet, mal zu. Wenn der letzte Kunde am abend gegangen ist – also wir unseren Kaffee getrunken haben – räumt er die sechs Plastikstühle in seine Bude und stellt sie so zusammen, dass sie eine Liegefläche ergeben zum übernachten. Das ist wirklich spartanischer als der Ashram.

Weiter…oder nicht?

Mi, 27.11.02. Dick eingemümmelt verlassen wir den Ashram mit unseren beladenen Rädern. Heute geht es wirklich nur bergab, da sind wir ganz sicher. Wir fahren Richtung Dorf und wollen zum letzten Mal das wunderschöne Panorama von Kausani genießen. 350 Kilometer Schneeberge. Da lernen wir Philipp kennen. Endlich mal ein Reisender und noch dazu ein netter. Er schwärmt so von Kausani, dass wir überlegen, ob wir nicht doch noch eine Weile bleiben sollen. Hin- und hergerissen radeln wir erstmal eine Serpentine weiter um den Berg herum, um einen Kaffee zu trinken. Wow. Von hier ist das Panorama noch beeindruckender. Wir können bis nach Nepal sehen. Nichts stört den Blick in die Ebene und auf die darauffolgenden Schneeberge als Abschluss am Horizont.

Teil des Bergpanoramas in Kausani

Die Einheimischen sagen, dass der Schnee von Jahr zu Jahr abnimmt. Klimawandel. Einer meint sogar, in 20 Jahren gäbe es keinen Schnee mehr auf den großen Himalaya-Bergen. Was für eine düstere Vorstellung.

Beim Kaffee bietet uns der Wirt ein „Cottage“ für 50 Rupien (etwas mehr als 1 Euro) an. Er weist auf eine kleine Hütte etwas unterhalb seines Hauses. Wir stapfen das terassierte Gelände herunter. Die kleine Hütte mit Lehmboden und Wänden aus Blech mit Bastmatten verhängt ist wirklich total nett. Statt Fenster gibt es ein großes Moskitonetz, das mit einer blauen Plastikplane zugehängt werden kann. Und durch dieses Netz sieht man auch das wunderbare Bergpanorama. Draussen steht eine Blechtonne mit Wasser und immerhin ist – ebenfalls mit blauem Plastik umspannt – noch eine Toilette und eine Art Waschfläche vorhanden. Das ist so unglaublich idyllisch und ruhig und nett, dass wir beschliessen, uns hier einzuquartieren. So sind wir 1,5 km weit gekommen und können uns wieder „entmümmeln“.

Zusammen mit Philipp und zwei Kanadierinnen, Sally und Jessy, verbringen wir die nächsten beiden Abende in Kausani. Wir haben bisher so wenig Reisende getroffen, dass wir es unglaublich geniessen, uns über unsere Erlebnisse in Indien auszutauschen. Jessy und Sally sind beide schon viel in der Welt herumgekommen. In Indien waren sie in zwei Monaten jedoch erst an drei Stellen, weil sie gleich krank geworden sind.

Alles wegen Geld
Die State Bank of India ist weltweit die Bank mit den meisten Filialien. Doch nicht jede wechselt Geld. Inzwischen ist klar, dass wir nach Almora zurück müssen. Weiter in den Bergen gibt es keine Möglichkeit mehr. Also lassen wir Fahrräder und Sachen im Cottage und fahren mit einem Public Jeep nach Almora.

Dort verbringen wir noch einen Tag mit Philipp und quartieren uns im Hotel Kailash ein. Mr. Shah führt das Guest House seit 30 Jahren, ist selbst schon 85. Es sieht aus wie ein Hexenhäuschen und ist unglaublich ollgekruschtelt. Dagegen sind unsere ehemaligen Wohnungen leer und aufgeräumt! In der Nacht ist es supeduperkalt. Wir vermissen unsere Schlafsäcke, ziehen alles an was wir haben und setzen unsere Mützen auf. Es nützt nichts. Meine Füße sind Eisklumpen. Ich bin froh, als die Nacht vorbei ist. Sobald die Sonne scheint, wird es wieder warm.

Mit dem Bus fahren wir zurück nach Kausani. Fast, denn unterwegs bleibt der Bus liegen. Alle steigen aus und es wird fleissig herumgeschraubt. Zum Glück kommen Jeeps vorbei. wir fahren mit einem weiter. Plötzlich bleibt der Jeep stehen. alle drehen sich um und gucken mich an. Und tatsächlich, ich bin die einzige Frau im Jeep und während sich alle noch irgendwie auf die Sitzbänke drücken, sitze ich auf dem Ersatzreifen in der Mitte. „Nein, nein, kein Problem“ rufe ich als sich zwei Inder in meinem Rücken versuchen noch mehr zusammenzuquetschen, um mir Platz zu schaffen. Trotz Patriarchat gibt es doch oft einen höflichen Umgang Frauen gegenüber. So ist im Puplic Jeep oder Shared Taxi klar, dass die Frauen die Sitzplätze bekommen, während die Männer oft außen am Jeep geklammert mitfahren.

Wir kommen in Kausani an, es dämmert, Uwe geht es nicht gut. Vermutlich hat er Fieber. Jetzt mit angeschlagener Gesundheit im Cottage übernachten? Wir haben Angst, wieder frieren zu müssen. Am Cottage hat die nette Familie Verständnis, kocht uns noch einen Kräutertee und hilft uns, die Sachen zur Straße rauf zu tragen. Wir quartieren uns im DeepRaj Guest House ein, in dem Zimmer, in dem vorgestern noch Jessy und Sally gewohnt haben, und freuen uns über die vielen Decken, die es dort gibt.

Uwe misst Fieber. 39,9 Grad Celsius! Unser Wirt holt einen Arzt. Es ist der Mann aus der Medikamentenbude in Kausani. Der rät uns, das Fieber auf unter 39 Grad herunterzukühlen. So schaffen wir es denn auch, mit kalten Lappen auf Kopf, um Hände und Waden, das Fieber zu senken. Am nächsten Morgen steht das geballte medizinische Wissen Kausanis vor unserem Zimmer. Der Mann aus dem Medikamentenbüdchen und der Doktor aus dem Government Hospital. Sie diagnostizieren eine Virusgrippe und beteuern, dass Uwe keine Symptome für Malaria hat. Einen Bluttest können wir nur in Almora machen. Schon wieder Almora!? Uwe erhält eine Spritze in den Po. Nachdem die beiden gegangen sind, ist zumindest klar, dass die Spritze steril war und auch nicht noch einmal benutzt wird. Die Spritze mitsamt Kanüle, Glassplitter und Ampullenfläschchen und alle Verpackungen liegen verstreut auf dem Boden unseres Hotelzimmers.

Sechs Tage lang geht das Fieber auf und ab. Uwe liegt im Bett und ich mache tagsüber meine Shopping-Tour durch Kausani. Ein Shop sieht aus wie der andere. Überall Bonbons in Gläsern und diverser Kruscht. Die Männer stehen zu Trauben zusammen und spielen Karten. Lange mag ich nicht wegbleiben. Der Eimer mit kaltem Wasser steht vor Uwes Bett.

Das Internet-Cafe vernetzt Kausani

„Marriage, Marriage!“ lachen mich die zwei in Schals vermummte Mitarbeiter des Hill Queen Restaurants an. Es ist noch immer Hochzeitssaison in Indien und Kiran, der Chef, ist des öfteren eingeladen. Da bleibt das Internet-Cafe geschlossen. Kausani ist ein Ort zum Geduld üben. So wie in Spanien das Wort „Manana“ (morgen) einem den letzten Nerv rauben kann, so gibt es hierfür in Kausani zwei Äquivalente: „Marriage“ und „Almora“. Der, den man sucht, ist nicht da und das, was man braucht, gibt es nur in Almora. Und Almora ist 60 Kilometer entfernt. Auch die Internetverbindung ist ein Geduldsspiel. Es dauert 1,5 Stunden, um eine E-Mail zu öffnen. Willkürliche Unterbrechungen der Verbindungen oder „Power-Cut“ (das Kraftwerk dreht den Hahn ab) sorgen für weitere Verzögerungen. Aber das Internet-Cafe ist auch ein guter Ort, um interessante Exoten von Kausani kennen zu lernen. Zum Beispiel David, der seit mehr als 30 Jahren im Lakshmi Ashram lebt und arbeitet, dort inzwischen glücklich mit Hansi verheiratet ist und eine 8-jährige Tochter hat. Robert kam ausgerechnet am 11. September 2001 mit einem 10-Jahresvisum von Amerika nach Indien, „Vielleicht genau der richtige Zeitpunkt, Amerika zu verlassen“ meint er und verweist auf Nostradamus. Er wohnt jetzt in Kausani in einem 4-Zimmer-Appartement bei einer indischen Familie und meditiert viel.

Carl, ein Kanadier ist aktiv in einer internationale NGO „Non-violent-peace-force“. Nach einem Meeting mit Vorstandswahlen in der Nähe von Delhi erholt er sich ein paar Tage in Kausani. Und Swami Chaitanga, komplett in orange gekleidet und mit unglaublich langem Bart ist er als Sadhu unterwegs, lebt jedes Jahr für mehrere Monate in Kausani. „Geduld und einen Sinn für Humor, das braucht man in Indien.“ sagt Swami. Recht hat er.

Uwe hat kein Fieber mehr und kann endlich wieder draussen herumtappen. Die Jeans schlottert um seine Beine. Meine Güte ist er dünn geworden. Als ich im Jeep nach Almora die vielen spitzen Knochen in meinen Beinen gespürt habe, habe ich noch gedacht, dass Uwe, Philipp und ich, nun wirklich nicht gerade übergewichtige Europäer, hier die dicksten sind. Für meinen Geschmack hat sich Uwe jetzt ein bisschen zu sehr angepasst. Außerdem fühlt er sich entsprechend schwach. An eine Weiterfahrt ist noch nicht zu denken.

Planeten – Lakshmi Ashram – und immer wieder Sunrise, Sunset über dem Himalaya

Jeden Morgen um 5.30 zeigt Kiran im Hill Queen durch sein Teleskop die Planeten Venus, Saturn und Jupiter. Jeden Morgen? Nein, natürlich nicht, wenn eine Hochzeit ist. Und so stehen wir um 5.30 am Hill Queen, treffen auf Carl und Kollegin, aber nicht auf Kiran. Am nächsten Morgen klappts. Zehn Mädchen im Alter von 6 bis 15 Jahren und zwei Lehrerinnen vom Lakshmi Ashram sind ebenfalls da und tummeln sich ums Teleskop.


Venus erscheint als unglaublich heller Stern am Morgenhimmel. Durch das Teleskop betrachtet sieht sie zur Zeit aus wie ein Halbmond. Beeindruckend ist natürlich Saturn. Ganz klein nur, aber immerhin deutlich, sehen wir den Planeten mit seinen Ringen, die als ein Reif erscheinen. Und dann gibt es noch Jupiter mit seinen Monden in einer geraden Linie zu bestaunen. Wir verabreden uns mit Neema für den Nachmittag, um sie für unser Album amicorum zu interviewen. Das ist großartig. Der Ashram leistet gute Arbeit für die Mädchen und Frauen in der Kumaon-Region. Gesponsort wird die soziale Organisation von einem dänischen Rotary-Club. Die Mädchen im Ashram lernen die Gedanken Ghandis. Dazu gehört auch die Selbstversorgung. Sie bauen Obst und Gemüse an, spinnen und weben. Zur Zeit wohnt auch eine Deutsche im Ashram. Ulrike lebt und arbeitet hier für ein ganzes Jahr.

Uwe: Der Ashram liegt wunderschön an einem steilen Hang oberhalb der terassierten Täler. Ein betonierter Fussweg führt dorthin. 72 Mädchen und Frauen leben hier. Als wir ankommen macht Neema gerade Buchhaltung oder irgendeinen anderen Papierkram. Wir setzen uns zu ihr auf den Boden. Neema erläutert uns die Arbeit des Ashrams und die Situation der Frauen in den Bergen von Kumaon. Sie zeigt uns die verschiedenen Bereiche des Ashrams, die Anbauterassen, das Bewässerungssystem, die Spinnerei und die Weberei und den Viehstall mit seiner warmen stickigen Luft. Die Sonne ist schon nicht mehr zu sehen, als wir gehen. Wir haben sehr viel erfahren und freuen uns, dass wir treffen und interviewen konnten.

Überhaupt machen wir in Kausani viele interessante Bekanntschaften. Da ist Deepak, in seiner Imbissbude, der so eine spezielle, symphatische Art zu reden hat, dass wir ihn beide einfach gern haben mussten. Für uns speziell, weil so wahnsinnig nett, ist die Familie des Cottages, wo wir leider auch nur zwei Tage bleiben konnten, aber immer mal wieder zum Frühstücken hin spazierten. Auch Kiran, der Chef des Hill Queen Restaurants, ist eine aussergewöhnliche Persönlichkeit. Seine ruhige, geduldige Art lässt ihn so unindisch wirken. Und dabei lächelt er permanent. Vielleicht verkörpert er den Ort Kausani am besten. Wir könnten ihn uns jedenfalls sehr gut als Bürgermeister von Kausani vorstellen. Wenn er erstmal ganz hier lebt. Momentan pendelt er noch je nach Saison zwischen dieser Bergidylle und dem Moloch Delhi, wo seine Familie lebt. Wenn die Kinder die Schule beendet und auf höhere Schulen in Puna oder Bangalore gehen, dann möchte er mit seiner Frau und seiner Mutter ganz nach Kausani ziehen.

Auch die Begegnung mit Swami Chaitanga war von Anfang an total angenehm und nett. Swami lebt ein sehr religiöses Leben, beschäftigt sich viel mit göttlichen Energien und scheint auch selbst viel Energie auszustrahlen. Uns tat jedenfalls die kurze Begegnung am Morgen sehr gut. Es war klar, dass wir seine Einladung, ihn zu besuchen, gern annehmen. Am nächsten Tag radeln wir zu ihm und unterhalten uns, immer wieder gestört von Kindern, die von ihm fotografiert werden wollen. Swami ist als US-Amerikaner, in der Nähe von New York geboren, war aber in seinem Leben viel in der Welt unterwegs. Heute hat er dem westlichen Leben zum großen Teil den Rücken gekehrt und sucht als Hindu die Erleuchtung. Er ist immer in orange gekleidet und hat einen sehr langen Bart, so dass man ihn auf den ersten Blick gar nicht mehr als Ausländer erkennt. Zudem spricht er fließend Hindi. Er lebt seit 10 Jahren größtenteils in Indien, reist aber immer noch viel durch die Welt. Wir reden viel über Götter und die Welt. Swami kann so viele Dinge sehr anschaulich erklären, die für uns bisher nicht so recht verständlich waren, zum Beispiel die Hindu-Religion, das Kasten-System und die Spiritualität in Indien. Außerdem hat er einfach Humor und wir lachen viel. Wir verabschieden uns mit wahnsinnig vielen Gedanken im Kopf. Es ist schade, dass wir morgen abreisen und ihn zumindest auf absehbare Zeit nicht mehr treffen werden.

Freitag, 13.12.02, Umso mehr freuen wir uns, als Swami an diesem Morgen mal wieder im Hill Queen am Computer sitzt. Eigentlich wollten wir uns von Kiran verabschieden. Der ist aber in Someshwar. So ist Swami der letzte, dem wir in Kausani „Namaste“ sagen. „Wenn Engel reisen, lacht die Sonne“ sagt er zum Abschied in seinem perfekten Deutsch und grinst breit.

Die meisten Touristen kommen nach Kausani, um ein Mal Sunrise und Sunset über dem Himalaya zu bestaunen. Wir haben insgesamt 17 Tage hier verbracht. So schön es hier auch ist, nun sind wir happy, endlich weiter fahren zu können. Der Weg nach Bageshwar führt durch ein unglaublich liebliches Tal mit Terassenfeldern und sich schlängelnden Fluss, eingerahmt von steilen, mit Pinien bewaldeten Berghänge. Zudem ist es angenehm warm in der Sonne. Endlich radeln wir wieder. Die nächsten Tage führen uns noch tiefer ins Gebirge.

Die Frauen in den Bergen

Unterwegs nach Birthi wird uns mal wieder sehr deutlich ein Aspekt der indischen Gesellschaft vorgeführt: Die Tee-Bars sind voll von Männern, die rumsitzen oder Karten spielen und ein paar Meter weiter kommen uns schwer beladene Frauen entgegen, die mit gebeugtem Rücken riesige Mengen an Feuerholz schleppen. Wie ungerecht doch die Frauen behandelt werden. Einerseits wird von den Frauen erwartet, dass sie Männer zur Welt bringen, weil Frauen weniger wert sind, andererseits sind es aber die Frauen, die viel mehr und härter arbeiten als die Männer.

Claudia: Immer wieder hören wir von den Vorteilen der arranged marriages (die Eltern „verheiraten“ ihre Kinder) und des Kastensystems. Jeder habe dadurch einen Platz in der Gesellschaft und eine starke Familie, die zusammenhält. Aber es manifestiert auch viele Nachteile. Zum Beispiel ist die Frau in der Regel aus einer Kaste, die ein bisschen unter der des Mannes steht. Der Mann darf die für ihn ausgesuchte Braut ablehnen, die Frau nicht. Das zeigt einmal mehr den Stellenwert der Frau sowie der Kaste, in die man hineingeboren wird. Die wunderbare Geschichte der indischen Schriftstellerin Suniti Namjoshi bringt die Diskrimminierung der Frauen und des Kastenwesens mit einem Augenzwinkern auf den Punkt.

Suniti Namjoshi: Der Brahmane und seine Tochter

In der heiligen Stadt Benares lebte einst ein Brahmane*. Während er am Flussufer wandelte und den Krähen zusah, die sich von den Leichenresten nährten, die halb verkohlt in der Strömung trieben, sagte er zu sich selbst: „Nun ja, ich bin arm, aber ich bin ein Brahmane; nun ja, ich habe keine Söhne, aber ich, ich selbst bin doch männlichen Geschlechts. Ich will in den Tempel zurückkehren und Gott Vishnu** um einen Sohn bitten.“ Er nahm den Weg zum Tempel, und Gott Vishnu hörte ihn an und erhörte ihn. Allerdings schenkte er ihm, ob aus Zerstreutheit oder aus anderen unerforschlichen Gründen, eine Tochter.

Der Brahmane war enttäuscht; doch als das Kind alt genug war, rief er es zu sich und sprach: „Ich bin Brahmane. Du bist meine Tochter. Ich hatte auf einen Sohn gehofft. Nun gut. Ich will dich alles lehren, was ich weiss, und wenn du verständig genug bist, wollen wir gemeinsam meditieren und nach Erleuchtung suchen.“
Obwohl nur ein Mädchen, war sie doch eine Brahmanin und lernte schnell. Da setzten sie sich zusammen nieder und meditierten angestrengt, und Gott Vishnu erschien ihnen schon nach kurzer Zeit. „Was wollt ihr?“ fragte er. Der Brahmane konnte kaum an sich halten. Er redete gleich los: „Ich will einen Sohn“ „Gut“, sagte der Gott, „in der nächsten Runde.“ Im nächsten Leben*** wurde der Brahmane eine Frau und gebar acht Söhne. „Und was ist dein Begehren?“ fragte Vishnu das Mädchen. „Ich möchte den Rang eines Menschen bekommen“ „Oh, das ist viel schwieriger“, wich der Gott aus, und setzte eine Kommission ein, um das Problem zu studieren.

Aus: Dieter Riemenschneider (Hrsg.), Shiva tanzt. Das Indien-Lesebuch, Suniti Namjoshi, „From the Panchatantra“, The Miscellany 98 (March/April 1980, 7. Deutsch von Rita Peterli.)
Brahmanen: höchste Kaste der Hindus. Gott Vishnu: Gott der Hindus. Inkarnation: Ein wichtiger Bestandteil des Hinduismus ist der Glaube an die Wiedergeburt, solange, bis man Moksha, die endgültige Erlösung erreicht.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Claudia: Di,17.12.02. Heute ist der Tag der Rekorde. so hoch sind wir noch nie gefahren, und so langsam auch nicht. Von Birthi aus geht es stetig bergauf. Wir sehen den Berg, den es zu überwinden gilt und bald auch über uns den Verlauf der Passstraße. Wirklich heftig sind die letzten 5 Kilometer Anstieg. Die Straße wird zur Schotterpiste. Steil und große Steine. Das ist wirklich gemein. Mich hauts manchmal sogar vom Fahrrad. So sind wir denn glücklich, nach 6 Stunden endlich auf 2750 Meter am Shakti Tempel zu sein. Zwar sind wir 900 Höhenmeter gefahren, aber nur 18 Kilometer Strecke! Unglaublich, wie anstrengend 18 Kilometer sein können.

Auf der Passhöhe sehen wir den Panchachuli in den Wolken, nur eine seiner 5 spitzen Peaks ist frei. Es fängt an zu graupeln. Munsiyari soll ein Regen- und Nebelloch sein. Doch wir haben Glück. Schon in der Nacht lösen sich die Wolken auf und der Panchachuli zeigt sich im Mondlicht. Am Morgen erstrahlt er in ganzer Pracht.

Überall auf der Welt gibt es „Zu-spät-Kommer“Aus dem Gebäude gegenüber unserer Lodge ertönt schon lauter Gesang, alle Schulkinder, die gerade noch auf den Dächern herumgeturnt haben, sind in der Schule, da rennen noch zwei Kinder den Weg entlang. Zu spät, zu spät. Ein Mann läuft mit einem Huhn unterm Arm umher und Frauen schleppen Holz. Munsiyari ist ein Dorf. Aber immerhin hat die Schule ein Dach für die Köpfe der Kinder. Unterwegs haben wir immer wieder Schulen gesehen, die bestanden aus einer Tafel mit einer Fläche davor, auf der die Schüler hockten.

Die verlorene Scheibe

„So, ich geh jetzt noch mal raus und finde diese Scheibe“, sage ich zu Uwe. Wir sind genervt. Nach einem gemütlichen Waschtag in Munsiyari schraubt Uwe am Nachmittag im letzten Sonnenlicht an den Bremsen herum und verliert eine kleine Scheibe, die wichtig ist, um die Bremse richtig einzustellen. Wir haben schon die ganze Veranda abgesucht, den ganzen Müll aus kleinen Tütchen von Kautabak und alten Zigaretten, der sich auf so einer indischen Veranda ansammelt, aus den Ritzen gefegt. Aber nichts. Die Scheibe ist wie verschluckt.

Da fühl ich mich in all meinen unheimlichen Vorahnungen bezüglich Munsiyari bestätigt. Hab ich es doch gewusst. Aus diesem Loch hinter den sieben Bergen kommen wir so ohne weiteres nicht wieder raus. Seit Uwes Krankheit in Kausani haben wir lange darüber diskutiert, ob wir uns so weit in die Berge trauen sollen. Jetzt sitzen wir also fest, müssen morgen bei Tageslicht weitersuchen und gar in Munsiyari krank werden, oder aber mit schlecht eingestellter Bremse diese abgrundsteilen Abfahrten fahren! Mit meiner ausgesprochen anschaulichen Fantasie sehe ich das Unheil, so oder so. Ok, ich will jetzt diese Scheibe finden und geh jetzt nochmal raus und wenn ich diese Scheibe finde, dann bleiben wir freiwillig hier, nein, besser wir meditieren morgen um 4 Uhr und entscheiden dann, ob wir weiterfahren oder – einfach so – noch bleiben.

„So, ich geh jetzt raus und finde diese Scheibe“ sage ich zu Uwe. Mit Stirnlampe bewaffnet gehe ich auf die Veranda und leuchte den schon so oft fixierten Boden ab, Uwe folgt mir. „Vielleicht in der Tube“, sage ich. Uwe nimmt die halb aufgeschlitzte Weißblechtube hoch. Unglaublich: Die Scheibe purzelt heraus. Juchu!!! Wir stellen den Wecker auf 4 Uhr.

Um halb 4 werde ich wach, gehe raus. Der Panchachuli und die hohen Berge Nepals strahlen im hellen Vollmondlicht. Schön. Wir beschließen, weiterzufahren. Raus aus der Kälte der hohen Berge.

Nackt auf 2,7

Auf der Passhöhe im Shakti-Tempel soll ein nackter Sadhu leben. Auf 2.700 Metern Höhe. Brrr. Wenn wir den nackten Sadhu erreicht haben, geht es nur noch runter. Bremsentest.
Uwe: Wir radeln die atemberaubende Strecke am Steilhang entlang und sind schon auf den nackten Sadhu gespannt.

Die kleine Tempelanlage ist voll von religiösen Utensilien wie Glocken, Götterstatuen und Blüten. In einem Gebäude neben dem Tempel scheint der Sadhu zu leben, mit vielen Hunden. Erst als wir wieder gehen wollen, zeigt er sich. Bekleidet! Wenn auch nicht allzu dick. Um die Beine flattert nur ein Lungee. Da er kein Englisch spricht, klappts mit der Kommunikation nicht so recht. Wir machen uns wieder auf den Weg.

Bis Ratapani, eigentlich kein Ort, sondern nur 3 bis 4 Hütten, hat das Radeln eher den Charakter von konzentriertem Material-Schonen. Tief unter uns können wir schon unseren Zielort erkennen, bis dahin sind aber noch 14 Serpentinenkilometer zurückzulegen.

Bei einer Chaibude auf halber Höhe machen wir Pause. Zehn Männer sitzen um uns herum, reden kein Wort und gaffen nur schüchtern. Das ist eine merkwürdige Stimmung. Im allgemeinen sind die Leute in den Bergen viel zurückhaltender als auf früheren Indien-Etappen.

Der Wasserfall poltert

Zurück in Birthi haben wir noch Zeit, den 125 Meter hohen Wasserfall aus der Nähe zu bewundern. Wir sitzen ganz nah darunter und haben beim Hochschauen fast das Gefühl, das Wasser stürze auf uns. Am Fuss des Wasserfalls liegen total viele große Gesteinsbrocken. Offenbar spuckt der Berg immer wieder große Steine. Die ganz großen Brocken können es locker mit einem Einfamilienhaus aufnehmen. Ich stelle mir gerade vor, wie sich ab und zu mal so ein Block in den Wasserfall mischt, als wir ein dunkles Poltern hören. Wir schrecken auf und laufen vom Wasserfall weg so schnell wir können. aber es kommt weiterhin nur Wasser. Offenbar hat sich im Seitental ein kleines Gewitter entwickelt.

20.12.02. Auf eine bestimmte Pause freuen wir uns seit Tagen. Chai (Tee) mit KUCHEN! Auf der Fahrt in die Berge haben wir zufällig dieses unscheinbare „Hotel“ mit leckerem Kuchen entdeckt. Jetzt steuern wir gezielt dorthin. Zum Glück hat die Bude auf. Dieser leckere unindische Kuchen ist eine feine Abwechslung. Mit seiner cremigen Glasur schmeckt der Kuchen ein bisschen wie Donauwellen. Lecker.

Claudia: Sa, 21.12.02. Die Strecke nach Pithoragarh ist atemberaubend. Wieder fahren wir an Berghängen entlang und durch steile grüne Täler. Schade nur, dass die atemberaubendsten Strecken immer so anstrengend sein müssen. Es geht kräftig rauf und runter. Gemein. Den indischen Karten sind solch lächerliche Kleinigkeiten wie Höhenangaben nur marginal zu entnehmen. Puh! Um 17.30 Uhr mit der Dämmerung erreichen wir Pithoragarh. Im Ort wird es nochmal richtig steil. Pithoragarh ist erstaunlich groß. Das lässt doch hoffen, das es Weihnachten nicht nur Reis mit Dhal gibt. Außerdem sehen wir eine christliche Kirche. Sollte hier gar Weihnachten gefeiert werden?

Pithoragarh ist zwar relativ groß, aber auch hier wird alles zusammengeklappt, sobald es dunkel wird. Nur ein paar zusammengekehrte Müllhaufen brennen dann noch. Jugendliche treffen sich an diesen brennenden Haufen, stehen darumherum und wärmen sich. Der Gestank von brennendem Plastikmüll ist morgens und abends in Pithoragarh allgegenwärtig und kriecht durch die Fenster unseres Hotelzimmers.

Gerade wollen wir ein bisschen in unsere Weihnachtsdepression verfallen, da steht ein ca. 15jähriges Mädchen neben uns, will sich mit uns unterhalten. Nach anfänglichen Zögern gesellt sich die zwei Jahre jüngere Schwester hinzu. Es sind Kushboo (good smell) und Reshma (Sunrise). In Indien haben die Namen immer eine schöne Bedeutung. Die beiden sind sehr unterhaltsam. Sie gehen in Pithoragarh zur Schule, in eine sehr, sehr große Schule (O-Ton: „huge, huuuuuge building“). Die beiden sind Punjabi und eigentlich seien alle Punjabi groß, dick und stark, weil sie in der Landwirtschaft arbeiten und viel essen müssen. Sie aber sind in Pithoragarh in der Schule und müssen jeden Morgen um 5 Uhr um das große Gebäude rennen. Frühsport. Und das Essen im Internat ist mies. Deshalb seien sie ganz dünn. Nur zwei Monate im Jahr sind sie Zuhause. Zum Market, in die Stadt dürfen sie nur mit schriftlicher Erlaubnis der Direktorin, eine dicke Australierin. Zum Abschied schenken uns die zwei auch noch einen Schokoriegel. Jetzt müssen wir Alten den beiden Kids die Süssigkeiten wegessen.

Weihnachten in Pithoragarh

24.12.02. In Pithoragarh gibt es immerhin eine methodistische Kirche. Aber erst am 24. Dezember beginnen sie, die Kirche zu schmücken. Vorher ist von Weihnachten wenig zu spüren. In den Straßen gibt es Neujahrskarten mit grünem Plastikgestrüpp dazwischen, ein Restaurant hängt ein paar Lichterketten auf und drinnen werden Jesus-Kalender gerollt. Wir haben unsägliches Heimweh.

Plötzlich schließen alle Geschäfte. Die Rolläden krachen nach und nach zu Boden. Dabei ist es erst Mittag. Wird etwa doch Heiligabend gefeiert? Wir treffen bekannte Gesichter, Neeraj (Lotus) und Suresh (king of gods parliament). „Nein, nein, das ist ein Streik“, erklären sie. „In Haldwani hat sich gestern aus Protest ein Student selbst verbrannt. Deshalb streiken jetzt alle Geschäfte in Haldwani, Nainital, Pithoragarh, dort wo die großen Schulen sind.“ Warum hat er das getan? Das kann keiner so genau erklären, dazu ist die Nachricht zu neu. Später erfahren wir, dass man ihm und seiner Studentenvereinigung verweigert hat, an Wahlen teilzunehmen.

Uwe: Neeraj und Suresh laden uns ein, nach Chandak zu fahren. Das ist ein kleiner Ort auf einem naheliegenden Berg mit einem schönen Aussichtspunkt. Auf der Fahrt legt Suresh eine Cassette mit einer Rede von Osho ein, dem in Europa wohl bekanntesten Guru. Neeraj und Suresh, die von sich behaupten, nicht religiös zu sein und an keinen bestimmten Gott zu glauben, legen diese Cassette einfach so beim Autofahren ein. Für uns eine komische Vorstellung, zumal der gute Osho auf eine ganz spezielle, langsame und sehr eindringliche Art redet, bei der er immer am Ende eines Satzes den letzten Ton der Silbe ganz langsam verstummen lässt.

Claudia: Wir fahren zu einem Tempel. Der Tempel ist reichhaltig geschmückt, viele Leute sind dort. Ein Fest? Unsere beiden Begleiter wissen nicht so recht, was los ist. Sie erkundigen sich. Es ist ein Opferfest. Fünf Ziegen werden geopfert. Den beiden ist das sichtlich unangenehm und auch wir wissen nicht so recht, ob wir uns das wirklich anschauen sollen. Wir nähern uns dem Tempel. Zwei Ziegenköpfe und zwei zuckende Ziegenkörper liegen schon vor dem Tempel, eine Menge Menschen umringt dicht die Stelle, wo die Ziegen geköpft werden. Wir sehen nur ein großes Messer in der Luft und hören ein stumpfes Geräusch. Relativ zügig ist das Spektakel vorbei, die Ziegen und ihre Köpfe werden weggeschleppt. Es bleibt eine Blutlache und eine Blutspur. Durch diese läuft barfuß ein Mann mit einem Tablett mit Bechern. Er kommt auf uns zu und bietet uns einen Chai an. Nein danke.
Als Uwes Kamera entdeckt wird, werden wir durch ein Tor gebeten. Vor dem Gelände des Tempels liegt ein großer Büffelkörper und fein säuberlich abgetrennt davor der Kopf. „Davon soll ich wohl jetzt ein Foto machen“ meint Uwe und schluckt. Na denn.

Weihnachtsmesse

Um 17.30 Uhr gehen wir in die Kirche. Inzwischen ist sie über und über mit Lichterketten behängt. Innen steht eine Art Weihnachtsbaum: Grüne Zweige mit bunten Luftballons und Watte dekoriert. Die Messe besteht aus einer Aneinanderreihung von kleinen Auftritten von Kindern, die als Sterne oder heilige Kühe durch die Kirche flitzen. Je länger die Messe dauert, desto mehr macht sich ein Kommen und Gehen bemerkbar. Draußen leuchtet ein großes Lagerfeuer. Wir gehen raus und bekommen gleich Chai und Sweets in die Hand gedrückt – ja und einen aufgerollten Jesuskalender als Geschenk. Wir unterhalten uns nett mit Santa Claus (einem verkleideten Mädchen) und seinem Bruder. Es ist mal wieder unglaublich leicht, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen.

Wo ein Telefon ist, gibt es noch lange keine Verbindung

Dann müssen wir aber dringend wieder los. Schließlich wollen wir Zuhause anrufen. So schlagen wir alle Einladungen aus und steuern diverse Telefonbuden an. Nichts. Keine Verbindung. Wir wählen und wählen und wählen. Um 22 Uhr schließt die letzte Bude. Ist das frustrierend. Jetzt hoffen wir, dass unsere E-Mails angekommen sind und sich daheim niemand Sorgen macht. In unserem Hotelzimmer zünden wir jede Menge Kerzen an, essen einen kleinen leckeren Weihnachtskuchen und Mandarinchen. Wir kuscheln uns in die Schlafsäcke, denken an Zuhause und erzählen uns Geschichten. Frohe Weihnachten.

Uwe: Ein Weihnachtsgeschenk bekommen wir am nächsten Tag von unserer unglaublich netten Hoteltochter Priyadarshini. An der Grenze zu Nepal gibt es einen kleinen Markt. Von dort hat sie uns Handschuhe aus Nepal und China mitgebracht. Ist das nett.
Als sie mitbekommt, dass wir mit den Fahrrädern unterwegs sind, erwähnt sie, dass sie andere Radfahrer getroffen hat, aus der Schweiz. Wir freuen uns schon auf den Erfahrungsaustausch. Bis wir erfahren, die Radler vor zwei Jahren hier waren. Sie erinnert sich noch an die Namen, „Stephen“ und „Sandra“, oder so. Aha, das müssen Sandy und Steph gewesen sein.

Amöben und Würmer

Claudia: Indien, oh Indien – es ist so anstrengend. Nicht schon wieder. Alle Radtaschen stehen schon gepackt bereit, frühmorgens wollten wir weiter nach Lohagat. Bauchkrämpfe, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Durchfall, Fieber. Diesmal bin ich wieder dran. Es ist grauenvoll und frustrierend.

In Indien sind viele Menschen krank, nicht nur Ausländer, die fremde Bakterien nicht vertragen. Ein riesiges Problem ist das Wasser. Selbst in den Bergen ist es nicht trinkbar. Sogar das abgefüllte Wasser in Plastikflaschen ist oft ein Greuel. Die vertrauenserweckend-klingende Marke „Kwality Kwencher“ schmeckt zum Beispiel nach Abgasen. „Trinkwasser für alle bis 2004“ proklamiert Premierminister Vajpayee. Ein schönes Ziel, da hat er ja was vor. Vor verschmutztem Wasser kann man sich nicht wirklich schützen. Schließlich werden Tassen und Teller mit Wasser aus der Leitung oder aus Wassertonnen gespült. Wasser ist wichtig. Das wird einem richtig bewusst, wenn es kein gutes gibt.

Das Krankenhaus in Pithoragarh ist erneut Massenabfertigung. Untersucht werde ich in einem Raum, in dem sich noch mindestens 15 weitere Patienten aufhalten, vor der Tür steht eine weitere Menge. Priyadarshini flitzt zur nächsten Medikamentenbude, um eine Spritze zu kaufen. „Das ist besser, sonst nehmen sie eine alte“, erklärt sie. Unglaublich. Da hängt im Eingangsbereich ein Plakat, das für sterile Spritzen zur Prävention von AIDS wirbt, aber die Ärzte benutzen munter eine Spritze für mehrere Patienten, wenn der Patient keine eigene mitbringt. Die Diagnose lautet: Keine Malaria, dafür Würmer und Amöben. Die Würmer kann ich mit einer Tablette „wegkauen“. Aber Amöben sind schon hartnäckigere und unangenehmere Bewohner. Nach drei Tagen gekrümmt im Bett geht es mir wieder einigermaßen gut. Aber an Radfahren ist leider nicht zu denken. So vermasseln uns Würmer und Amöben die Abfahrt aus den Bergen!

Flucht geglückt

Uwe, 29.12.02. Wir haben die Nase voll von Krankheiten, Kälte und Abgeschiedenheit und steigen um 5.30 Uhr in den Bus nach Haldwani. Es ist noch dunkel als wir durch die steilen Hänge fahren. Wegen der Dunkelheit ist es ein bisschen wie in einer Geisterbahn. Rechts der Felsen, links der Abgrund. Vor allem einige Frauen vertragen die Fahrt nicht. Immer wieder strecken sie die Köpfe zum Fenster raus. Am Bus sieht man von außen recht deutliche Spuren, auch schon von früheren Fahrten. Und Claudia hatte sich Sorgen auf der Fahrt nach Jaipur gemacht. Dabei ist es ganz einfach: Köpfchen raus, egal wo, wir sind in Indien. Kurz vor Haldwani nutzen wir eine Pause, um unsere Räder abzuladen. Die letzten Kilometer rollen wir auf eigenem Rad in den Ort. Ein bisschen Abfahrt gerettet.

Claudia: Wir wollen weiter nach Delhi, stehen in Haldwani am Bahnhof. Ich stehe bei den Rädern und sehe Uwe, wie er sich aufregt. „Ich bekomme kein Zugticket, weil es kein Formular mehr gibt!“. Alle Formulare sind einkassiert, da die Herren Bahnbeamten Feierabend machen möchten. Ich amüsiere mich über Uwe und sage „Wir sind in Indien. Geduld!“ Dann gehe ich selbst los. Der Bahnbeamte erzählt mir, morgen könne ich kein Ticket für den gleichen Tag kaufen. „Auch nicht wenn noch Plätze frei sind!“ patze ich zurück und rege mich mindestens so auf wie Uwe zuvor. Es ist aber auch zum Haare raufen. Am nächsten Tag nehmen wir einen Bus nach Delhi.